BKGE-Lexikon

Lissa/Leszno

Toponymie

deutsche Bezeichnung

Lissa, Polnisch Lissa

fremdsprachige Bezeichung

poln. Leszno

Geografie

Lage

70 km sw. von Posen/Poznań, 90 km nw. von Breslau/Wrocław.

Staatliche und regionale Zugehörigkeit

Kreisfreie Stadt in der Woj. Großpolen/Wielkopolski mit ca. 64.000 Einwohnern (Stand 2007)

Geschichte und Kultur

Mittelalterliche Geschichte

Erste urk. Erwähnung des Dorfes 1393. Die Verleihung des Handelsprivilegs durch Rafał IV. Leszczyński 1547 führte zu einem raschen Wachstum der Stadt. Seit 1561 war L. Handelsplatz mit Magdeburger Recht.

Frühneuzeitliche Geschichte

1656 wurde L. im schwedisch-polnischen Krieg fast völlständig zerstört. Viele Einwohner suchten v. a. in Schlesien Zuflucht, ein Teil kehrte anschließend nach L. zurück. 1793 kam L. im Zuge der poln. Teilungen an Preußen.

Geschichte im 19. Jh.

Nach dem Wiener Kongress (1814/15) gehörte L. zum Kreis Fraustadt/Provinz Posen im Regierungsbezirk Posen. Im Jahr 1887 wurde L. Sitz der Kreisverwaltung.

Geschichte im 20. Jh.

Nach dem Ersten Weltkrieg (1920) wird L. auf Grundlage des Versailler Vertrags wieder an Polen abgetreten. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt bereits im Oktober 1939 von dt. Truppen besetzt, mit dem sogen. Reichsgau Wartheland dem Deutschen Reich angeschlossen und 1941 in „L. (Wartheland)“ bzw. „L. (Posen)“  umbenannt. Am 21. Oktober 1939 wurden 20 Angehörige der örtlichen Intelligenz und Eliten der Stadt öffentlich exekutiert. 20% der Lehrerschaft L. wurden noch im Jahr 1939 von den Besatzern hingerichtet. Auch die 184 Angehörigen (Stand: Juni 1939) der jüd. Gemeinde L. wurden Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In der Umgebung L. wurde ein Zwangsarbeiterlager für Polen und poln. Juden aufgebaut. Vermutlich mehr als 7200 Menschen (Die Zahl ist in der Forschung noch umstritten) aus Stadt und Kreis L. wurden ins Generalgouvernement verschleppt und viele von ihnen dort in Konzentrationslagern ermordet; viele kamen als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich. Bis 1943 brachten die Nationalsozialisten 4000 sog. volksdeutsche Ansiedler in den Kreis L. In L. entstand ein aktives Zentrum des Widerstands gegen die dt. Besatzung. Seit 1945 gehört L. wieder zu Polen. Die dt. Bevölkerung wurde vollständig ausgesiedelt. Die Rolle als kulturelles Zentrum der Region und „Stadt der Schulen“ behielt L. auch nach dem Zweiten Weltkrieg bei. 1977 entstand die Stadtbibliothek;  in den 1970er Jahre entablierte sich auch eine differenziertere Lokalpresse. 1993 Gründung der ersten Hochschule. Erhebung zur Woiwodschaftshauptstadt im Jahr 1975. Seit 1999 ist L. freie Kreisstadt und Sitz der Bezirksverwaltung.

Religions- und Kirchengeschichte

1516 ließen sich die ersten Böhmischen Brüder in L. nieder; nach der Niederlage des protestantischen Schmalkaldischen Bundes 1547 wanderten sie verstärkt ins Posener Land ein und gründeten zahlreiche Gemeinden. Die in L. gehörte zu den wichtigsten und gewann an Bedeutung als 1628 1500 bis 2000 böhm. Exulanten, unter ihnen Jan Amos Komenský (Comenius), Zuflucht suchten. Die Brüdergemeinde unterhielt die erste Druckerei L., die vor allem Werke Comenius’ druckte. Die Stadt blieb auch nach Comenius´ Wirken und trotz der Gegenreformation ein Zentrum des poln. Protestantismus. Nach dem Bau der Synagoge (1626) und der lutherischen Heilig-Kreuz-Kirche (1635) verfügten die vier großen, in der Stadt ansässigen Konfessionen über eigene Gotteshäuser. Seit dem 17. Jh. ist in L. eine bedeutende jüd. Gemeinde nachweisbar. Sie war neben Posen/Poznań die bedeutendste in Großpolen und  unterhielt eine Talmudschule, mehrere Schulen, zwei Hospitäler, verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen und trug einige Vereine zur Förderung der jüd. Religionswissenschaften. Das Judenviertel L. wurde 1707 im Verlauf des Nordischen Kriegs sowie 1767 und 1799 durch Stadtbrände mehrmals zerstört. 1799 wurde die neu erbaute Synagoge eingeweiht, die 1905 durch einen Neubau ersetzt wurde.

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung der jungen Stadt, die neben Posen die wichtigste Stadt Großpolens war, waren bis ins 18. Jh. hinein vor allem das Weberhandwerk und die Mühlen sowie der Handel mit ihren Produkten nach Schlesien. Die in L. ansässige jüd. Bevölkerung war vor allem als Handwerker und Händler tätig. Besonders eng waren die Handelsbeziehungen mit Breslau, wo die L. Juden bis 1870 eine eigene Synagoge unterhielten. 1856 erfolgte der Bau der ersten Bahnstrecke Großpolens Posen – Lissa/Lieszno – Breslau. Mit dem Ausbau weiterer Verbindungen (nach Glogau/Glogów, Kalisch/Kalisz, Landsberg a.d.W./Gorzów Wlkp.) etablierte sich L. als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt in Großpolen. Die Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse des 19. Jh. erfassten auch L. Hier siedelten sich v. a. Industrien für Landmaschinen sowie zur Weiterverarbeitung und Veredelung landwirtschaftlicher Produkte an. Auch der Handel mit landwirtschaftsnahen Produkten und das Handwerk blieben wichtige Wirtschaftszweige. Seit ca. 1880 stieg die Zahl der poln. Handwerker an. 1882 erfolgte die Gründung eines Handwerksvereins für Deutsche und Polen, zehn Jahre später gründeten die Polen jedoch einen eigenen Gewerbeverein, da die nun betonten nationalen Unterschiede die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zunehmend überdeckten. Die ehemals wichtige Tuchfabrikation konnte sich im 19. Jh. in L. nicht behaupten, viele Tuchmacher siedelten in die Nähe von Lodz/Łódź um, wo ein neues Zentrum der Textilindustrie entstand. L. blieb ein Bildungszentrum mit zahlreichen Schulen, Verlagen und Buchhandlungen. Unter kommunistischer Herrschaft veränderte sich die Wirtschaftsstruktur der Stadt hin zu wenigen Großbetrieben der landwirtschaftliche Rohstoffe verarbeitenden Industrien, Lebensmittel- und Metall verarbeitenden Industrie. Handel und Handwerk wurden genossenschaftlich organisiert.

Bevölkerungsgeschichte

Bis zur dt. Besatzung im Zweiten Weltkrieg lebte in L. eine gemischte Bevölkerung sowohl hinsichtlich des Bekenntnisses (Juden, Katholiken, Lutheraner, Böhmische Brüder) als auch hinsichtlich der Muttersprache (Deutsch, Polnisch, Tschechisch) bzw. der nationalen Zugehörigkeit, die ab dem 19. Jh. das religiöse Bekenntnis als Zuordnungskategorie sukzessive ablöste. Die jüd., vorwiegend deutschsprachige Bevölkerung stellte mit 4-500 Einwohnern, die im Norden der Stadt in einem eigenen Bezirk lebte, bis 1793 fast die Hälfte der Einwohner. Katholiken fanden sich überwiegend in der poln. Bevölkerung, unter den Böhmischen Brüdern gab es anfänglich auch poln. Anhänger, die Lutheraner waren mehrheitlich deutschsprachig. Im Zuge der Zugehörigkeit zu Preußen bzw. dem Deutschen Kaiserreich setzen Germanisierungstendenzen ein, die zum Ende des 19. Jh. u.a. durch den (planmäßigen) Zuzug von dt. Beamten und Lehrern verstärkt wurden. Nachdem L. nach dem Ersten Weltkrieg wieder zum poln. Staat kam und zahlreiche dt. Einwohner auch jüd. Religion die Stadt unter dem Eindruck der Polonisierung abwanderten, stellten die poln. Einwohner die Bevölkerungsmehrheit, 1939 mit über 90%. Die dt. Besatzung beendete durch Deportation und Ermordung der letzten Juden die fast 400jährige Geschichte der ehemals bedeutenden jüd. Gemeinde L

Jahr

Einwohner

Protestanten

Katholiken

Juden

~1650*

14.-15.000




~1675*

mind. 5000




~1790*

8-10.000

50%

10%

40%

1817*

7.700

40%

13%

47%

1849*

9.200

49%

17%

34%

1905*

16.000

53%

41%

6%






Jahr

Einwohner

Deutsche

Polen


1920**

17.300

26%

71%

3%

1939**

21.300

8%

91%

1%

1990

57.700




2007

64.000***




*gerundete Zahlen nach: Historia Leszna (1997), S. 188, **238

*** gerundet nach: Górny Urząd Statystyczny, Ludność. Stan i Struktura w Przekroju Terytolrialnym. Stan w dniu 30 VI 2007 r.

Bibliografische Hinweise

Literaturtitel

Aron Heppner, Isaak Herzberg: Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüd. Gemeinden in den Posener Landen - nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Koschmin, Bromberg 1909, S. 596-613; Jerzy Gaj: Historia Leszna. Leszno 1997.Stanisław Karwowski: Kronika Miasta Leszna. Poznań 1877.

Zitation

Heinke Kalinke: Lissa/Leszno. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2011. URL: http://lexikon.bkge.uni-oldenburg.de (Stand: 26.04.2011)

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